20. April 2020 – ADVOCACY
Im Irak droht eine große humanitäre und sicherheitspolitische Katastrophe. Die COVID-19-Pandemie verschärft eine anhaltende Krise, von der Vertriebene im ganzen Land betroffen sind, darunter auch die Überlebenden der vom Islamischen Staat im Irak und in Syrien (ISIS) verübten Gräueltaten. Diese bereits traumatisierten Gemeinschaften sehen sich nun mit Bewegungseinschränkungen konfrontiert, die das zugrundeliegende psychische Leid verschärfen und zu erhöhten Selbstmordraten führen können. Darüber hinaus verschärft der jüngste wirtschaftliche Zusammenbruch des Irak die soziale Instabilität und schafft ein Sicherheitsvakuum, welches wiederum das Risiko weiterer ISIS-Angriffe erhöht und die Saat für deren künftige Gräueltaten sät. Die irakische Regierung und die Vereinten Nationen (UN), einschließlich der Weltgesundheitsorganisation (WHO), können jetzt einfache und wirksame Maßnahmen ergreifen, indem sie die unten aufgeführten Schritte befolgen:
Das öffentliche Gesundheitssystem im Sinjar und dem weiter gefassten Regierungsbezirk Nineveh, wurde vom ISIS während seiner brutalen Besetzung und seines 2014 beginnenden Völkermordes im Irak dezimiert. Nach Angaben der UNO gibt es 1,8 Millionen Binnengeflüchtete, welche aufgrund der anhaltenden Unsicherheit und des mangelnden Wiederaufbaus in Vertriebenenlagern im ganzen Irak leben. Die weltweit empfohlene Hygienemaßnahme des Händewaschens reicht dort schlichtweg nicht aus, um die Ausbreitung einer Atemwegserkrankung wie COVID-19 einzudämmen, da sich die soziale Distanzierung in Lagern mit hoher Bevölkerungsdichte, in denen zahlreiche Familien in unmittelbarer Nähe zueinander leben, als unmöglich erweist. Gegenwärtig ist es schwierig, das Ausmaß der Ausbreitung des Virus zu erfassen, da in den Lagern keine Tests der Krankheit durchgeführt werden, während gleichzeitig die Bewegungseinschränkungen die Arbeit der humanitären Akteure behindern, die für die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern wie Nahrung, Wasser und Medikamenten sorgen. Viele Jesiden wollen in die Sinjar- Region zurückkehren, dennoch fehlt es immer noch an weitreichenden Sicherheitsmaßnahmen und infrastruktureller Grundversorgung, um eine Rückkehr in Würde zu ermöglichen. Gegenwärtig gibt es in der Region nur zwei Krankenhäuser und nur ein Beatmungsgerät, um der derzeitigen Bevölkerung von rund 160.000 Menschen zu helfen. Die WHO muss eine dringende Mission zur Beurteilung der Situation in der Sinjar- Region, in Tel Afar und in der Niniveh-Ebene veranlassen und zusätzlich Testkapazitäten für alle Vertriebenenlager bereitstellen.
Eine weitere alarmierende Begleiterscheinung der COVID-19-Pandemie im Irak sind die psychologischen Auswirkungen auf gefährdete Gemeinschaften, wie die Jesiden, Christen, Turkmenen und Assyrer. Vor dem Ausbruch der Pandemie berichtete Ärzte ohne Grenzen über eine lähmende Krise der psychischen Gesundheit von Jesiden im Irak, darunter wurde eine steigende Zahl von Selbstmorden dokumentiert. Die gesamte jesidische Bevölkerung leidet unter den Traumata, die durch den Völkermord verursacht wurden. Einige Betroffene zeigen schwere psychische Symptome. Zu den Personen mit erhöhtem Risiko gehören die Frauen und Mädchen, die systemische sexuelle Gewalt erlebt haben, und die Jungen, die vom ISIS gewaltsam rekrutiert wurden. Gegenwärtig gibt es keine wirksamen Traumabehandlungen für Kinder, die in Gefangenschaft gehalten oder während des Kriegs geboren wurden.
COVID-19 hat auch dazu geführt, dass die begrenzte psychosoziale Therapieunterstützung, die bisher geleistet wurde, eingestellt wurde. Dabei haben Fachleute für psychische Gesundheit Hunderte von Zivilisten mit hohem Selbstmordrisiko identifiziert, worüber hinaus bereits von zwei Selbstmorden durch Selbstverbrennung berichtet wurde. Dabei ist zu bedenken, dass viele weitere Suizidversuche aufgrund der Stigmatisierung der Betroffenen weiterhin nicht gemeldet werden. Die WHO muss sich unverzüglich mit der akuten Krise der psychischen Gesundheit der Betroffenen befassen und die Durchführung von Aufklärungskampagnen zur Suizidprävention verstärken.
COVID-19 und der rapide Rückgang der Ölpreise haben die irakische Wirtschaft stark geschwächt und ein gefährliches Sicherheitsvakuum hinterlassen, das vom IS ausgenutzt werden kann. Die daraus resultierenden politischen und sozialen Unruhen erinnern genau an die Bedingungen, von denen der IS und seine Anhänger während ihres anfänglichen Aufschwungs vor fast einem Jahrzehnt auch profitiert haben. Laut der International Crisis Group rief der IS in seinem wöchentlichen Newsletter Al-Naba seine Kämpfer dazu auf, seine Feinde anzugreifen und zu schwächen, solange sie von der Pandemie abgelenkt sind. COVID-19 hat auch den Abzug einiger Koalitionstruppen aus dem Irak beschleunigt und damit die Antiterroroperationen geschwächt, während einige IS-Häftlinge vor kurzem aus dem Gefängnis in Syrien fliehen konnten. Es besteht dringender Reformbedarf im zivilen Sicherheitssektor, um die regionalen Milizen in eine einheitliche Polizeiallianz integrieren zu können, die die Rechtsstaatlichkeit aufrechterhält und alle Bürger ungeachtet ihrer Religion oder Zugehörigkeit schützen kann. Um der anhaltenden ISIS-Bedrohung entgegenzuwirken, muss die irakische Regierung mit den Vereinten Nationen zusammenarbeiten, um somit die Bemühungen zu beschleunigen, die IS- Kämpfer für den verübten Völkermord, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen und die vorher genannten internationalen Verbrechen in das Strafgesetzbuch aufzunehmen.
COVID-19 ist eine Pandemie, wie wir sie noch nie zuvor gesehen haben. Die Überlebenden des Völkermords und anderer Gräueltaten müssen nun fürchten, dass dieser stille Tod durch die Lager und ihre Häuser zieht und sie nicht fähig sind, sich zu wehren. Es besteht eine erhebliche Gefahr für die globale Sicherheit, wenn der ISIS diese Gelegenheit nutzt, sich neu zu gruppieren und zurückzukehren. Doch das kann verhindert werden. Die irakischen Behörden und die Vereinten Nationen müssen jetzt handeln:
Unterzeichner:
Enquiries: Saad Babir media@yazda.org +1(402) 484-1852
Für einen Download des gemeinsamen Statements als PDF, bitte hier klicken:
[German] Joint_NGO_Statement_Iraq_COVID-19_Humanitarian_Security_Implications
[English] Joint_NGO_Statement_Iraq_COVID-19_Humanitarian_Security_Implications