19. Januar 2023 – ADVOCACY

DEUTSCHER BUNDESTAG ERKENNT DEN VÖLKERMORD AN DEN JESIDEN OFFIZIELL ALS SOLCHEN AN

Der Deutsche Bundestag hat den Beschluss gefasst, auf den wir mit HÁWAR.help und weiteren jesidischen Organisationen seit Jahren hingearbeitet haben: Der Deutsche Bundestag erkennt den Genozid an den Jesiden offiziell als solchen an. Am 3. August 2014 verübte die Terrormiliz Daesch – auch bekannt als „Islamischer Staat“ – ein Massaker, das auf die Vernichtung dieser jahrtausendealten ethnisch-religiösen Gemeinschaft zielte. Mehr als 5.000 JesidInnen fielen dem unerbittlichen Überfall auf die Region Schingal in Irak zum Opfer. Etwa 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt, in die (sexuelle) Sklaverei gezwungen, misshandelt und als Kindersoldaten rekrutiert.

Nachdem es gelang, Daesch weitgehend militärisch in der Region zurück zu drängen, leben noch immer Hunderttausende Jesidinnen und Jesiden in schlecht ausgestatteten Lagern für Binnenvertriebene in der Autonomen Region Kurdistan, ohne eine Perspektive, bald in ihre Heimatorte zurück kehren zu können. Noch immer fehlt jede Spur von mehr als 2.700 Jesiden, die in Daesch-Gefangenschaft vermutet werden. Inzwischen lebt hier in Deutschland die weltweit größte jesidische Diaspora-Gemeinschaft.

 

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Für die Glaubensgemeinschaft der Jesiden weltweit ist es von großer Bedeutung, dass der Deutsche Bundestag sich für die Anerkennung des Genozids ausspricht und der Bundesregierung empfiehlt, sich dem Votum anzuschließen. Dem liegt ein gemeinsamer Antrag der Bundestagsfraktionen von Bündnis ’90/ Die Grünen, SPD, FDP und CDU/CSU zugunde. (Den vorläufigen Antragstext hier lesen.)

Bereits im vergangenen Jahr gab es dafür großen Zuspruch im Menschenrechtsausschuss und im Petitionsausschuss. Letzterer hatte sich einer Petition angenommen, die von Gohdar Alkaidy, dem Vorsitzendem des Vereins “Stelle für jesidische Angelegenheiten” initiiert wurde und für die er und sein Team über Monate hinweg für breite Akzeptanz in der Zivilgesellschaft warben. Das Quorum von 50.000 Stimmen wurde erreicht und der Bundestag hatte sich dafür ausgesprochen, der Petition folge zu leisten.

Die Anerkennung des Genozids ist mehr als nur ein symbolischer Akt. Es ist eine Heilung. Denn nichts wünschen sich die Überlebenden mehr als Gerechtigkeit, dass die Welt ihr Leid sieht und die Täter bestraft werden. Genozide stellen einen Angriff auf die regulative Idee dar, dass die Menschheit frei von Unterdrückung und Gewalt ihre Geschicke in die Hand nimmt und eine gemeinsame Zukunft auf dieser Erde gestaltet. Der Fakt, dass Daesch den perfiden Plan hatte, die Jesiden in ihrer Gesamtheit auszulöschen – weltweit nur etwa 1 Millionen Menschen – wird nun klar in der Anerkennung durch die Bundesrepublik festgehalten: Es war Völkermord.

UNSERE FORDERUNGEN

Dass die Bundesrepublik Deutschland den Völkermord an den Jesiden nun endlich anerkennen will, begrüßen wir aus vollem Herzen und mit tiefer Dankbarkeit! Deutschland hat als Wahlheimat der größten jesidischen Diaspora eine große politische Verantwortung und wir hoffen, dass die Bundesrepublik dieser auch in Zukunft gerecht wird.

Dennoch müssen der Anerkennung weitere Schritte folgen. So muss die humanitäre Lage der Jesiden in Irak dringend verbessert werden und der Genozid strafrechtlich international verfolgt wird. Dazu kann die Bundesrepublik entscheidend beitragen. HÁWAR.help fordert im Anschluss an die Anerkennung des Genozids an den Jesidenvon der deutschen Politik:

1.) Diplomatisches Einwirken auf die kurdische Regierung in Erbil und die irakische Zentralregierung in Bagdad zur Umsetzung des Sinjar-Abkommens. Dieses sieht Reformen im administrativen und im sicherheitspolitischen Bereich sowie zum Wiederaufbau des zerstörten Heimatgebiets der Jesiden vor. Die Umsetzung würde eine Rückkehr binnenvertriebener Jesiden begünstigen. Bislang wurde dem nicht ausreichend von den politischen Akteuren Rechnung getragen.

2.) Die irakische Regierung zur Umsetzung des Yazidi (Women) Survivors’ Law aufzufordern. Dies ist bislang nur in Ansätzen geschehen. Das Gesetz wurde im Jahr 2021 beschlossen. Es sieht Reparationen und andere Leistungen für Jesiden, aber auch Angehörige weiterer ethnisch-religiöser Minderheiten in Irak wie Christen, Turkmenen, Kaka’i und Schabaken, vor, die von der Gewalt der Daesh-Truppen betroffen waren.

3.) Die irakische Regierung aufzufordern, die Ratifizierung des Römischen Status des Internationalen Strafgerichtshofs vorzunehmen, damit das irakische Strafrecht auf eine Grundlage gestellt wird, um Straftatbestände in Bezug auf Verbrechen gegen die Menschheit in der Rechtspraxis abzudecken. Dabei ist auch darauf hinzuweisen, dass die Todesstrafe sich nicht mit rechtsstaatlichen internationalen Standards vereinbaren lässt.

4.) Die Einrichtung eines weiteren Bundessonderkontingents zur Aufnahme besonders von den Auswirkungen des Genozids betroffener Jesiden aus Irak. Angesichts eines hohen Suizidrisikos aufgrund erlittener Traumata können diese Personen nicht darauf warten, bis sich die psychologische und humanitäre Versorgungslage in Irak bessert. Sie brauchen jetzt Hilfe.

5.) Finanzielle und personelle Unterstützung der Beweissicherung in Irak, die künftig zur juristischen Aufarbeitung des Genozids genutzt werden können.

6.) Die Einrichtungen eines Dokumentations- und Archivzentrums in Deutschland zur Aufklärung über den Genozid an den Jesiden und dessen Folgen. Es ist wichtig, dass auch die nicht-jesidische Bevölkerung hierzulande Zugang zu wissenschaftlich fundierten und verlässlichen Informationen rund um den Genozid aber auch über die Religionsgemeinschaft der Jesiden und ihre Glaubensinhalte erhält.

7.) Die weitere Verbesserung der psychosozialen und humanitären Versorgungslage in Irak.