27. August 2017 – ADVOCACY

GASTBEITRAG: IM NAMEN DER JESIDINNEN

Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hat freundlicherweise einen Gastkommentar von Düzen Tekkal veröffentlicht, den wir hier in voller und ungekürzter Länge wiedergeben: 

Seit Tagen stehe ich mit einer bemerkenswerten Frau im Austausch, Hakima ist ihr Name, die als Überlebende des Völkermordes an den Jesiden 2015 mit einem Sonderkontingent nach Deutschland kam – und seitdem in Baden-Württemberg lebt, dort ihren Hauptschulabschluss nachgeholt hat, um möglichst bald Erzieherin zu werden. Warum ich mit der jesidischen Frau im Austausch stehe: Ihr Neffe Diber gehört zu einer Gruppe von insgesamt elf Jungs, die jüngst aus der Gefangenschaft des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) befreit wurden – nach einem unfassbar langen Gefangenschaftsmartyrium von viereinhalb Jahren.

Als sei das nicht schon furchtbar genug, wird Diber auf eine Heimat treffen, in der der IS sein Zerstörungswerk verrichtet hat. An Dörfern, an Städten, aber auch an ganz konkreten Menschen, weder Dibers Mutter noch sein Vater haben das Morden der vermeintlichen Gotteskrieger des IS überlebt: Diber wurde seinen Eltern am 15. August 2014 in Kodscho, einem kleinen Dorf im Distrikt Sindschar, von IS-Kämpfern entrissen, sein Vater wurde anschließend hingerichtet und in einem Massengrab verscharrt, seine Mutter wenig später getötet – als wäre das nicht schon furchtbar genug, sind die beiden Brüder des Jungen bis heute verschollen.

Das mag einem von Deutschland aus ganz weit weg vorkommen, aber wenn man die Fotos sieht, die Hakima mir von ihrem Neffe Diber geschickt hat, dann ist das Grauen auf einmal ganz nah. Man – also ich, die Tochter jesidischer Eltern – wird von unendlicher Traurigkeit überwältigt, aber auch von nagender Ohnmacht. Man verzweifelt an einer Welt, die solch barbarische Verbrechen zuließ, obwohl das „Nie wieder“ nach den Massakern in Sarajevo und dem Völkermord in Ruanda noch nicht einmal richtig verklungen war.

Und an die Gesichter von Hakima und Diber muss ich denken, wenn ich jetzt in der Zeitung lese, dass Deutschland jetzt womöglich etliche IS-Angehörige mit deutscher Staatsbürgerschaft zurück ins Land holen muss. Und an die Gesichter der Frauen – am bekanntesten ist wohl die spätere Nobelpreisträgerin Nadia Murad – die ich im Nordirak traf und die mir von ihren Leidensgeschichten erzählten. Von Versklavungen, Vergewaltigungen und brutalster, menschenverachtender Gewalt. Leidensgeschichten, die einen als Zuhörer schon nicht mehr loslassen; die den Betroffenen und ihren Angehörigen jedoch körperliche und seelische Wunden rissen, die nie vergehen werden.

Was also tun mit den Angehörigen den IS? Also den Leuten, die die bestialischen Verbrechen gegen das Völkerrecht begangen, unterstützt und mitgetragen haben? Am besten wäre ein Kriegsverbrechertribunal, wie wir es etwa von Ruanda oder dem ehemaligen Jugoslawien kennen. Ein Kriegsverbrechertribunal, das idealerweise dort errichtet wird, wo die Verbrechen begangen worden sind und mit den notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet ist, um in rechtsstaatlich einwandfreien Verfahren Gerechtigkeit walten zu lassen. Aber das wird wohl ein Traum bleiben, wenn man sich den zerstrittenen Sicherheitsrat und die Situation in der fragilen Autonomen Region Kurdistan, im gesamten Irak, in Syrien und den Nachbarländern vor Augen führt.

Also bleibt nur die zweitbeste Lösung. Wir – Deutschland, die EU und der gesamten Westen – müssen dafür sorgen, dass die Täter des IS vor Gericht kommen. Deutschland ist schließlich 2002 mit der Errichtung des Völkerstrafgesetzbuches die Verpflichtung eingegangen, Völkerrechtsverbrechen zu ahnden, die rechtliche Handhabe haben wir also durchaus. Was wir auch bereits haben, sind einzelne engagierte Beamte und Behörden, die tatsächlich die Ermittlungen vorantreiben, die Beweismittel sicherstellen, die Verdächtige inhaftieren. Ein Lob, das zuvörderst an die Bundesanwaltschaft geht, das vom Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof betriebene Strukturermittlungsverfahren gegen den IS weist in die richtige Richtung, das ist alles andere als ein Papiertiger, sondern ein effektives Vorgehen, dem Anerkennung gebührt.

Was mir jedoch enorme Sorgen bereitet, ist die unzureichende Ausstattung der verantwortlichen Behörden. Die Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen steht bei der Sichtung der Beweise und der Aufnahme der Zeugenaussagen vor einer echten Mammutaufgabe, für deren Bewältigung derzeit aber nur dreizehn Polizeivollzugsbeamte und vier Tarifbeschäftigten vorgesehen sind. Ähnlich unzureichend ist die Personaldecke bei dem Völkerstrafrechtsreferat des Generalbundesanwalts, das mit gerade einmal sieben Stellen auskommen muss. Noch besorgniserregender ist die Lage, wenn man sich die Anzahl der Verbindungsbeamte anschaut, die fürs Zusammentragen der Beweise aus den Krisenregionen unverzichtbar sind – dort hat man einen im Libanon, das war es dann aber auch schon.

Wenn Deutschland also tatsächlich massenhaft IS-Angehörige aus Syrien und dem Irak aufnimmt, dann müssen vorher (!) die Kapazitäten bei den Strafverfolgungsbehörden massiv aufgestockt werden. Das kostet zwar Geld, aber was wären den die Alternativen? Dass die IS-Angehörigen am Ende frei auf Deutschlands Straßen rumrennen, weil nicht genug Beweise gesichert werden konnten? Das treibt nicht nur die Wähler in die Arme der Rechtspopulisten, sondern wäre ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die sich den Opfern des IS verbunden fühlen. Oder, noch schlimmer, wie will man einer jesidischen Frau, die über ein Sonderkontingent nach Deutschland kam, erklären, dass sie womöglich im Supermarkt auf einen ihrer ehemaligen Peiniger trifft? Einem ehemaligen IS-Angehörigen, der sie womöglich vergewaltigt hat? Und der sich jetzt auf Kosten der deutschen Steuerzahler ein schönes Leben macht?

Das sind so unerträgliche Vorstellungen, dass kein Weg daran vorbeiführt, den Ermittlungsapparat zu stärken. Wenn es einen Platz in Deutschland für IS-Angehörige gibt, dann vor Gericht. Und, wenn das Gericht die Schuld festgestellt hat, im Gefängnis.

Und abschließend eine sehr persönliche Bitte von mir. Redet nicht immer nur von den IS-Tätern, denkt auch mal an die Opfer. Ich habe Frauen getroffen, die unsägliche Qualen erleiden mussten, aber nach ihrer Befreiung eine Stärke an den Tag gelegt haben, die mich ganz klein werden ließ. Die Frauen wollen Zeugnis ablegen, wollen, dass die Welt erfährt, was passiert ist, auch wenn das Erzählen von den Gräueln ihnen erneut körperliche Schmerzen verursacht. Gerechtigkeit – und damit auch die Hoffnung, dass so etwas nie wieder passiert – kann es nur geben, wenn die IS-Täter und -Unterstützer, die noch leben, allesamt vor Gericht landen.

Ich habe immer ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn ich Opfer des IS getroffen habe. Die Menschen, häufig Frauen und Kinder, haben so ein Leid erlitten, dass ich mich für mein gutes Leben im sicheren Deutschland geschämt habe. Dass ich den Bitten der Frauen, der Welt von ihrem Leid zu erzählen, nicht immer gerecht werden konnte. Und mir immer wieder die Frage gestellt habe, ob ich selbst genug getan habe, ob ich mehr hätte tun können. Ob ich viel früher und viel lauter die Stimme hätte erheben sollen.

Weil es am Ende immer um Menschen geht, um Menschen wie Hakima und Diber.