1. August 2017 – ADVOCACY

REDE VON BUNDESKANZLERIN ZUR FRAUENKONFERENZ

Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der 1. Internationalen HÁWAR.help Frauenkonferenz “Vergewaltigung ist eine Kriegswaffe – Schweigen beenden, Überlebende stark machen” in Kooperation mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundestag am 29. Juni 2017

Liebe Frau Tekkal,
lieber Kollege aus dem Bundeskabinett Gerd Müller,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste,
danke dafür, dass Sie alle gekommen sind, um sich mit diesem so wichtigen Thema auseinanderzusetzen.

Ganz besonders begrüße ich die UN-Sonderbeauftragte Frau Patten. Die Vereinten Nationen spielen eine herausgehobene Rolle, wenn es darum geht, Frauen und Mädchen zu stärken, sexualisierte Gewalt nicht zu ignorieren, sondern beim Namen zu nennen; und das heißt, sie als Verbrechen beim Namen zu nennen, zu bekämpfen und möglichst auch zu verhindern.

Das ist wirklich eine schwierige und verantwortungsreiche Aufgabe, der Sie sich, Frau Patten, nun als UN-Sonderbeauftragte annehmen. Deutschland unterstützt Sie gern dabei. Wir pflegen eine lange, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Ihrem Büro, die wir auch fortsetzen wollen. Das möchte ich sozusagen gleich als Eingangsstatement für das, was unsere Arbeit auch nach diesem Kongress leiten wird, anmerken.

Meine Damen und Herren, derzeit hören wir von sexualisierter Gewalt vor allem in Regionen, in denen Terrormilizen ihr menschenverachtendes Unwesen treiben: in Syrien, im Irak, in einigen Staaten Afrikas. Ich möchte an die über 200 Schülerinnen erinnern, die 2014 in Nigeria entführt wurden. Auch wenn inzwischen viele freikamen, befinden sich doch Etliche noch immer in der Hand ihrer Peiniger. Und bei denen, die freigekommen sind, hat die erfahrene Gewalt Spuren für ihr ganzes Leben hinterlassen.

In Konflikten und Krisengebieten werden Mädchen und Frauen immer wieder zur Zielscheibe sexualisierter Gewalt. Sie werden systematisch vergewaltigt und terrorisiert, verschleppt, gefoltert und misshandelt. Jeder einzelne Fall – man kann es nicht anders sagen – ist widerwärtig; jeder einzelne Fall ist eine menschliche Tragödie.

Doch leider ist das Thema nicht neu. Bereits im Zweiten Weltkrieg gab es derartige systematische Übergriffe. In den 90er Jahren kam es – ich erinnere mich noch; ich war damals Frauenministerin – zu Massenvergewaltigungen während des Bosnienkriegs. Und in Ruanda waren sie grausame Begleiterscheinungen des Völkermords.

Daher lässt sich mit Fug und Recht von einer Kriegswaffe sprechen. Denn der systematische Einsatz sexualisierter Gewalt geht über die physische Kontrolle und Erniedrigung der betroffenen Frauen und Mädchen hinaus. Er zielt auch auf deren psychische und soziale Vernichtung. Die Folgen sind verheerend. Zu den körperlichen Verletzungen und dem seelischen Trauma kommt häufig die gesellschaftliche Stigmatisierung hinzu. Dadurch erleiden die Betroffenen doppelte Gewalt, an der sie oft ein Leben lang schwer tragen.

Was kann man tun? Ich glaube, das Allerwichtigste ist, das Schweigen zu beenden, wie es ja auch im Titel dieses Kongresses heißt. Das zu fordern, fällt leicht. Das als Betroffene zu tun, erfordert aber unglaublich viel Kraft und Überwindung. Deshalb möchte ich den Teilnehmerinnen des ersten Podiums dafür danken, dass sie von ihren persönlichen Erfahrungen berichtet haben. Das ist alles andere als selbstverständlich. Aber es ist außerordentlich wichtig, zu erfahren: Sexualisierte Gewalt ist nicht irgendein abstraktes Thema, sondern ganz konkrete Realität. Sie berührt die Würde des Menschen; und deshalb geht sie alle etwas an.

Es geht darum, offen zu benennen, was geschehen ist. Es geht darum, Überlebenden zu helfen. Es geht zugleich darum, Täter zur Verantwortung zu ziehen. Denn dies ist – davon bin ich überzeugt – eine zentrale Voraussetzung für die Befriedung und Stabilität einer Gesellschaft und damit für den Wiederaufbau eines Staatswesens, das dann auch wirklich Zukunft haben kann.

Deutschland engagiert sich seit langem für die strafrechtliche Verfolgung sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt in bewaffneten Konflikten. Wir müssen das Völkerrecht durchsetzen – um der Gerechtigkeit willen; und auch, um die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft zu bewahren.

Daher unterstützt Deutschland die internationalen Strafgerichte personell und finanziell – zum Beispiel die Tribunale für die völkerrechtliche Aufarbeitung der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda. Das Jugoslawien-Tribunal wertete erstmals die systematischen Vergewaltigungen im Zuge des Krieges als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auf dieser Grundlage wurden dann auch die Urteile gefällt.

Die Bundesregierung beteiligt sich auch am Aufbau des sogenannten „Triple I-M“ – des „International, Impartial and Independent Mechanism“. Er soll dazu dienen, schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die seit 2011 in Syrien geschehen sind, strafrechtlich verfolgen zu können. Auch deutsche Institutionen sind beteiligt. Seit 2014 führt der Generalbundesanwalt Ermittlungen durch gegen unbekannte Mitglieder der islamistischen Terrormilizen. Ein Schwerpunkt sind die Übergriffe auf Jesidinnen im Nordirak.

Die jesidische Gemeinschaft hat in den vergangenen Jahren unglaubliches Leid erfahren. Im Herbst vergangenen Jahres habe ich mich mit UN-Sonderbotschafterin Nadia Murad getroffen. Sie war selber in die Fänge von Terrormilizen geraten. Heute bringt sie die Kraft auf, von ihrer Lebens- und Leidensgeschichte zu erzählen. Mit gleicher Kraft setzt sie sich für Mädchen und Frauen ein, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist oder droht. Nadia Murad ist übrigens über ein Sonderprogramm nach Deutschland gekommen. Insgesamt haben wir über tausend traumatisierte Personen der jesidischen Gemeinschaft aus dem Nordirak aufgenommen. Vor allem möchte ich einen Dank an Baden-Württemberg richten, weil dieses Bundesland hier einen Schwerpunkt gesetzt hat.

Die Bundesregierung fördert auch medizinische und psychologische Hilfe für Überlebende von sexualisierter Gewalt in der Region selbst – unter anderem in Flüchtlingscamps im irakischen Ninive. Ich vermute, dass Sie mit Gerd Müller gerade darüber gesprochen haben.

Frauen und Mädchen, die Gewalt erfahren haben, sollen, so gut es geht, zurück ins Leben finden. Wir müssen verhindern, dass sie als Opfer stigmatisiert werden und dadurch Opfer bleiben. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Die Voraussetzung dafür ist, ein neues Selbstbewusstsein aufzubauen, um dann überhaupt wieder ein eigenes, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Nach dem humanitären Weltgipfel vor rund einem Jahr ist Deutschland einer Kampagne beigetreten, die der Förderung von Projekten zur Selbstbehauptung und zum Selbstschutz von Frauen und Mädchen in Notsituationen dient.

Wir haben auch diejenigen Personen im Blick, die zu uns nach Deutschland geflüchtet und besonders hilfsbedürftig sind. Die Bundesregierung hat ein Sonderprogramm in Höhe von 200 Millionen Euro aufgelegt. Damit sollen Flüchtlingsunterkünfte baulich so verbessert werden, dass Frauen und Kinder sicher untergebracht sind. Wir setzen uns zudem für Schutzkonzepte in den einzelnen Aufnahmeeinrichtungen ein.

Wir haben auch ein kostenloses Hilfetelefon für Frauen eingerichtet, die bedroht sind oder Gewalt erfahren. Ausgebildete Fachkräfte bieten Beratung an; und zwar in 17 Sprachen. Das ist im Übrigen ein Angebot für alle Frauen, die in Deutschland leben. Denn Gewalt gegen Frauen kommt ja auch bei uns leider immer noch zu oft vor. Dabei geht es zumeist auch um Übergriffe im eigenen Zuhause.

In jedem Fall gilt aber natürlich, dass es am besten ist, wenn es gar nicht erst so weit kommt, dass Frauen oder Mädchen Gewalt erfahren. Deshalb brauchen wir wirksame Prävention – überall auf der Welt. Das heißt, wir müssen Frauen stärken. Denn dass sie zur Zielscheibe von Aggression werden, nur weil sie Frauen sind, ist auch Ausdruck mangelnder Gleichberechtigung.

Im Herbst 2015 hat die Weltgemeinschaft einen globalen Fahrplan zur nachhaltigen Entwicklung verabschiedet. Ziel fünf der Agenda 2030 lautet: „Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen“. Daran zu arbeiten, ist Gewaltprävention im besten Sinne des Wortes; und es ist noch mehr. Frauen und Mädchen zu stärken, darin liegt ein zentraler Schlüssel zur erfolgreichen Umsetzung der gesamten Agenda 2030. Im Agendatext selbst ist festgehalten – ich möchte daraus nochmals zitieren –: „Die Verwirklichung der Geschlechtergleichstellung und die Befähigung von Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung werden einen entscheidenden Beitrag zu Fortschritten bei allen Zielen und Zielvorgaben leisten.“

Das reicht auch bis hin zur Konfliktüberwindung und zum Friedenserhalt. Wenn es keinen Krieg gibt, kommt es auch nicht zum Einsatz grausamer Waffen – also auch nicht zu systematischen Vergewaltigungen. Auf diesen Zusammenhang machte bereits die UN-Resolution 1325 aufmerksam. Mit ihr widmeten sich die Vereinten Nationen im Jahr 2000 erstmals dem Themenfeld „Frauen, Frieden, Sicherheit“. Zum einen macht die Resolution deutlich, dass sich bewaffnete Konflikte auf Frauen und Mädchen unverhältnismäßig stark auswirken. Zum anderen hebt sie hervor, wie wichtig es ist, dass Frauen an der Arbeit für Frieden, Sicherheit und Stabilität aktiv mitwirken. Ihre gleichberechtigte Beteiligung kann für stabilen Frieden und wirksame Prävention nur dienlich sein. Ich könnte auch sagen: Sie ist unabdingbar.

Die UN-Resolution 1325 hat natürlich auch Eingang in die deutsche Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Gleichstellungspolitik gefunden. Wir haben Anfang des Jahres den zweiten Aktionsplan verabschiedet, um der Intention der Resolution so weit wie möglich gerecht zu werden. Die Stärkung der Frauen ist ein facettenreiches Thema, das wir immer wieder aufgreifen. Das war bei unserer G7-Präsidentschaft vor zwei Jahren der Fall; und auch während unserer G20-Präsidentschaft nimmt das Thema breiten Raum ein.

Dabei sind mir zwei Aspekte besonders wichtig: Das sind Bildung und Arbeit. Beides hängt eng zusammen. Je länger Mädchen zur Schule gehen, je besser sie ausgebildet sind, desto größer sind ihre Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben. Ich bin sehr froh – über meine Kontakte in afrikanischen Ländern weiß ich das –, dass viele Staatspräsidenten diesen Mechanismus zumindest erkannt haben. Ich bin aber immer wieder sehr bedrückt, wenn ich sehe, dass man gar nicht all das auf einmal tun kann, was man tun müsste, nämlich Mädchen länger als bis zum 11. oder 12. Lebensjahr in die Schule gehen zu lassen. Jedes zusätzliche Jahr aber hat unglaubliche Wirkung darauf, später dann auch wirklich ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Es gibt immerhin viele positive Beispiele dafür, wie dies gefördert werden kann. Beispielsweise hat Ruanda das heiratsfähige Alter von Mädchen heraufgesetzt. Das hat dazu geführt, dass Mädchen später Kinder bekommen und eine längere Ausbildung genießen können. Ich kann auch die ganze Afrikanische Union nur ermuntern, dies immer wieder zu thematisieren. Ich sehe da durchaus erste Fortschritte.

Bessere Bildung und Ausbildung erhöhen wiederum die Chancen auf wirtschaftliche Teilhabe. Neben Wissen und Können braucht es aber auch finanzielle Starthilfen, um sich eine wirtschaftliche Existenz aufbauen und auf eigenen Füßen stehen zu können. Dabei hat sich in vielen Ländern die Institution der Mikrokredite sehr gut bewährt. Daran lässt sich weiter anknüpfen. Deshalb wollen wir auf dem G20-Gipfel, der nächste Woche in Hamburg stattfinden wird, auch den sogenannten „Women’s Entrepreneur Fund“ beschließen, der junge Unternehmerinnen in Entwicklungsländern unterstützen soll und von der Weltbank geleitet wird.

Meine Damen und Herren, starke Frauen, die sicher vor Gewalt ihre Talente entfalten, zur Geltung bringen und ihren Weg gehen können – das ist gut für die jeweilige Person; das ist gut für die jeweilige Familie; und das ist gut für die jeweilige Gesellschaft. Denn diese baut dann auf den Potenzialen nicht nur der einen Hälfte der Gesellschaft, sondern der gesamten Bevölkerung auf. Ich bin felsenfest davon überzeugt: Gleichberechtigung und Gleichstellung fördern und festigen den Zusammenhalt in unseren Gesellschaften. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist unabdingbar für die Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen und Konflikten. Er ist im Übrigen auch Voraussetzung dafür, Streitfragen friedlich und demokratisch zu klären, was uns wiederum zum Ausgangspunkt zurückführt.

Ein herzliches Dankeschön an alle, die die Idee zu diesem Kongress hatten und dessen Durchführung ermöglicht hatten. Ich weiß, Frau Tekkal, dass Sie da auch gebohrt haben – mit Recht. Ich möchte mich bei Frau Maag und bei vielen anderen aus der Fraktion ganz herzlich bedanken. Aber mein allergrößter Dank gilt denen, die bereit waren, zu uns zu kommen, um über das Leid zu sprechen, das sie erfahren haben, und die sich dafür engagieren, dass es weniger Leid gibt. Ein ganz, ganz herzliches Dankeschön dafür. Engagement kann man nicht erzwingen, aber gerade deshalb kann man dankbar dafür sein, dass es Sie gibt. Herzlichen Dank.