1. April 2021 – ADVOCACY

WOHIN MIT DEN IS-RÜCKKEHRER:INNEN?

Der Fall der britischen IS-Anhängerin Shamima Begum offenbart eklatante Mängel im Umgang mit Jihadistinnen, die sich in ihren Heimatländern radikalisierten und sich dem IS im Ausland anschlossen. Der lange Arm europäischer Rechtsstaaten muss bis nach Syrien reichen – mindestens.

Von Dimitrios Nikolaou

Vor dem Oberlandesgericht Frankfurt a.M. findet derzeit der weltweit erste Strafprozess im Zusammenhang mit dem Genozid an den Jesiden statt. Dort sagte kürzlich die Deutsche mutmaßliche IS-Anhängerin Jennifer W. aus. Die junge Frau aus Lohne (Kreis Vechta) ist die Nebenangeklagte in einem anspruchsvollen Prozess. Der Hauptangeklagte ist W.s Ex-Mann, Taha Al-J., ein irakisch-stämmiger IS-Anhänger, dem unter anderen Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermord vorgeworfen werden. Im Mittelpunkt steht dabei der Tod des 5-jährigen jesidischen Mädchens Rania, das das Ehepaar gemeinsam mit dessen Mutter als Haussklavinnen gehalten haben soll. Laut Anklage soll Taha Al-J. das Mädchen zur Bestrafung im Hof seines Hauses angebunden und qualvoll in der sengenden Hitze Falludschas (Irak) verdurstet haben lassen. Die Ehefrau Al-J.s soll tatenlos dabei zugesehen haben.

Ihr wird seit 2019 am Oberlandesgericht München der Prozess gemacht. Die Anklage lautet hier: Mord durch Unterlassung, Verbrechen gegen die Menschheit und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Rania und ihre Mutter wurden wie viele tausende jesidische Frauen und Mädchen durch den IS versklavt, verkauft und in der Gefangenschaft sexuell sowie körperlich misshandelt.  Auch wenn hier Einzelfälle verhandelt werden, tragen diese Prozesse zur Aufarbeitung der Massenverbrechen des IS bei und könnten für die künftige Strafverfolgung von IS-Verbrechen Maßstäbe setzen.

In der gleichen Woche, in der in Frankfurt Jennifer W. aussagte, beschloss der oberste Gerichtshof Großbritanniens, dass der Entzug der Staatsangehörigkeit der britischen IS-Anhängerin Shamima Begum rechtmäßig ist. Großbritannien hatte der Tochter von Einwanderern aus Bangladesch kurzerhand 2019 die Staatsbürgerschaft entzogen, nachdem ihr Aufenthaltsort bekannt wurde: Das in Nord-Syrien gelegene Al Hol-Camp, einem Lager für Flüchtlinge, das größtenteils von den Demokratischen Kräften Syriens (Engl.: „Syrian Democratic Forces“, kurz: SDF) administriert wird.

Der IS-Ideologie entsagt? Den IS-Anhängerinnen sollten wir mit Skepsis begegnen.

Die SDF war maßgeblich daran beteiligt, den IS auf dem offenen Schlachtfeld in Syrien zu besiegen. Bei den Flüchtlingen handelt es sich größtenteils um Personen, die aus dem vormaligen vom IS ausgerufenen Kalifat geflohen sind, das zu Hochzeiten weite Teile des Irak und Syriens ausmachte, und das für etwa 4,5 Jahre vom IS kontrolliert wurde.
Seit der Rückeroberung der vom IS kontrollierten Gebiete ist der Status der aus dem Ausland eingereisten IS-Anhängerinnen (und ihrer Kinder, die aus den mit IS-Anhängern eingegangenen Ehen stammen) ungeklärt. Im Al-Hol Camp wird die Zahl der aus 60 unterschiedlichen Ländern stammenden Flüchtlinge auf 62.000 geschätzt, darunter sollen sich etwa 22.000 Kinder befinden (Stand: Februar 2021).
Internationale Beobachter:innen kritisieren seit langem die desolaten Zustände im Lager, das nicht für eine so hohe Anzahl von Menschen ausgerichtet ist. Zudem seien die schlechten Bedingungen im Lager ein idealer Nährboden für eine (weitere) islamistische Radikalisierung der Einwohner:innen.
Zumal die IS-Ideologie im Camp allgegenwärtig sei und es dort auch zu Ermordungen kommt – höchstwahrscheinlich begangen von ehemaligen IS-Kämpfern, die sich in den Lagern befinden. Allein im Februar sollen 20 Menschen ermordet worden sein, darunter auch MitarbeiterInnen internationaler Hilfsorganisationen, die im Camp tätig sind. Im März waren es neun Fälle.

Vor allem Kinder und Jugendliche könnten empfänglich für die Indoktrination durch IS-Leute sein, wenn sich an ihrer Lebenslage nichts verbessert. Der französische Islamismusforscher Gilles Kepel weist seit Jahren darauf hin, dass sich Islamisten auch und in besonderem Maße in Gefangenschaft radikalisieren. Das gilt für die Gefängnisse in Europa ebenso wie für das syrische Al-Hol-Camp. Es stellt sich die Frage, was mittel- und langfristig das größere Sicherheitsrisiko schafft: Die staatliche Rückholung der IS-Anhängerinnen und ihrer Kinder, oder diese in den Camps einem unsicheren Schicksal durch Untätigkeit auszuliefern? Warum also sollten westliche Staaten denjenigen Kräften im Nahen Osten nicht entgegen kommen, die den IS militärisch weitestgehend nieder gerungen haben, indem sie ihre Bürgerinnen zurück holen, die im Ausland Menschheitsverbrechen begangen haben und ihnen auf ihrem Boden und mit ihren Rechtsmitteln den Prozess machen? Und warum sollte Kindern aus IS-Ehen eine andere Welt als die barbarische des IS vorenthalten bleiben?

Dazu scheinen sich die britischen Autoritäten nicht durchringen zu können: Shamima Begum darf nicht wieder nach Großbritannien einreisen. Die Behörden argumentieren, Begums Rückkehr würde ein Risiko für die nationale Sicherheit darstellen. Menschenrechtsorganisationen sehen diese Entscheidung kritisch: Indem der Staat britischen IS-KämpferInnen die Staatsangehörigkeit entzieht, entzieht er sich selbst zugleich auch der Verantwortung für die Straftaten seiner Bürger:innen auf ausländischem Boden. Damit überlässt er das Problem den ohnehin schon krisengebeutelten Staaten, in denen es für die juristische Aufarbeitung kaum Strukturen gibt, um die Tatverdächtigen vor Ort festzuhalten oder gar vor Gericht zu bringen.

Obgleich es die staatlichen Strafverfolgungsbehörden in den Herkunftsländern vor enorme  Schwierigkeiten stellt, Staatsbürger:innen, die sich dem IS in Irak und Syrien anschlossen, den Prozess im Heimatland zu machen, da die Beweisfindung für im Ausland begangene Straftaten keine leichte ist, sollte es keine Option sein, darauf zu verzichten. Die rechtlichen Schritte, die in Deutschland gegen IS-Rückkehrerinnen eingeleitet werden, zeigen dass es möglich ist, wenn der Wille dazu vorhanden ist.

HÁWAR.help setzt sich seit seiner Gründung für eine konsequente Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Menschheit ein – vor allem die des IS – und wird dies weiterhin tun! Unser Motto lautet: „No safe haven for perpetrators“ – keine sicheren Häfen für Täter:innen, weder in ihren Heimatländern, noch anderswo in der Welt.