5. Juli 2024 – ADVOCACY

10 JAHRE NACH DEM GENOZID – UNSERE VERANSTALTUNG “ANERKENNEN. HANDELN. ERINNERN.” IM DEUTSCHEN BUNDESTAG

10 Jahre nach dem Genozid – zwischen Rückkehr und Heimatsuche

Gemeinsam mit der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen und Max Lucks (MdB, Obmann des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe) luden wir mit unserer Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help am Dienstagabend in den deutschen Bundestag ein, um über 10 Jahre nach dem Völkermord an den Jesiden zu sprechen. Denn trotz dieser langen Zeitspanne hat noch kaum eine Bewältigung dieses Menschheitsverbrechens stattgefunden.

Der Abend schuf Raum für Begegnungen und Austausch auf Augenhöhe zwischen Überlebenden und ihren Familien, der Zivilgesellschaft und politischen Entscheidungsträger:innen. “Anerkennen. Handeln. Erinnern.” – drei Panels mit Betroffenen des Genozids, Expert:innen und Abgeordneten des Bundestags eröffneten den Abend. Anschließend konnten sich die Teilnehmenden der Veranstaltung an vier Thementischen über ihre eigenen Erfahrungen, aktuelle Perspektiven und Herausforderungen austauschen.

Max Lucks eröffnete die Veranstaltung und betonte: “Ein Schmerz, der 10 Jahre danach nicht gestillt werden wird. Als deutscher Politiker trage ich heute den Schmerz in mir, das wir damals nicht gehandelt haben.” Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Katrin Göring-Eckardt, erinnerte daran, dass Deutschland und die Welt die Gefahr des IS sah, aber 2014 nicht handelte: “Wir haben viel zu spät verstanden, dass wir diese Verantwortung haben. Dieses viel-zu-spät-Handeln, können wir nicht wieder gut machen.“

Düzen Tekkal, die Gründerin unserer Menschenrechtsorganisation mahnt: “Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Zuhause, auch die Jesiden. Es muss einen bundesweiten Abschiebestopp geben, deswegen sind wir heute auch hier.”

Überlebende des Genozids und Expert:innen berichten

2016 floh Duleem Ameen Haji vor Daesch aus der Stadt Mosul nach Deutschland. Er erinnerte an die Bedeutung der Anerkennung des Genozids durch den deutschen Bundestag im Jahr 2023.

Prof. Dr. Jan İlhan Kızılhan arbeitet als Traumatherapeut mit Jesiden und berichtete: “Die Situation vor Ort ist nicht gut. Jedesmal, wenn ich in Irak, in den Camps bin, sagen mir Jesiden, dass ich die deutsche Regierung bitten soll, dass ihre Leute hierhin nicht abgeschoben werden. Genozid ist nicht nur die physische Vernichtung von Menschen. Auf der kulturellen Ebene geht der Genozid weiter. Jesidische Kinder lernen ihre Sprache nicht mehr. Wenn sich nichts ändert, wird eine 4.000 Jahre alte Gemeinschaft in drei bis vier Generationen nicht mehr existieren.”

Jesiden können noch immer nicht in ihre Heimat zurück kehren und auch in Deutschland, dem Land, in dem sie nach Sicherheit gesucht haben, gibt es vor allem aufgrund der aktuellen Abschiebungen von Jesiden große Unsicherheiten.

Luise Amtsberg ist Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe: “Wir sehen bei den Abschiebungen die Brutalität und die Geschichten der Menschen. Ich finde es in allen Aspekten kritisch, Menschen abzuschieben in Regionen, in denen sie in Gefahr sind. Eine Abschiebung in ein IDP-Camp ist keine Abschiebung in ein Heimatland oder eine sichere Region.”

Nach der Paneldiskussion tauschten sich die Teilnehmenden an vier Thementischen aus.

Jana und Bascal schilderten am Thementisch “Bleibeperspektiven ermöglichen – in Deutschland ankommen” wie ihre Familie durch deutsche Behörden zerrissen wurde: Die beiden Schwestern leben in Bayern, ihre Eltern und zwei jüngere Geschwister wurden nach Irak abgeschoben. Jana und Bascal durften erstmal in Deutschland bleiben, da sie gerade in Ausbildung sind. Jesiden brauchen jedoch als vulnerable Gruppe einen Abschiebestopp!

An dem Thementisch “Schingal-Abkommen umsetzen – Wiederaufbau angehen”, berichtete HÁWAR.help-Botschafterin Jihan Alomar über ihre Reise nach Schingal vor wenigen Monaten. Sie machte deutlich, dass ein menschenwürdiges Leben hier noch zehn Jahre nach dem Genozid nicht möglich ist. Zerstörte Häuser, kein Wasser, kein Strom. Natia Navrouzov, Executive Director von Yazda, informierte über den Stand der Umsetzung des Schingal-Abkommens, die Sicherheitslage und Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und Deutschland sowie die Schließung der IDP-Camps und deren Auswirkungen.

Natalie von Wistinghausen, Fachanwältin für Strafrecht, vertrat eine jesidische Nebenklägerin in einem Gerichtsprozess gegen die IS-Anhängerin Jennifer W. . Am Thementisch “Strafrechtliche Verfolgung intensivieren – Gerechtigkeit schaffen” sprach sie mit den Teilnehmenden über die Beweissicherung in Irak, das Ende des UNITAD-Mandats, (einem investigativen Team der Vereinten Nationen, das bislang Beweise in Irak sicherte) und die Fortführung der Arbeit, der juristischen Aufarbeitung in Irak und Deutschland sowie das Yazidi Survivors Law. Sie berichtet von den Herausforderungen dieser anspruchsvollen Strafverfahren, die vor allem darin besteht, dass eine Genozid-Absicht nachgewiesen werden muss.

Dr. Leyla Ferman leitet das Projekt “FERMAN” bei der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten und führte am Thementisch “Historische Aufarbeitung unterstützen – Kollektiv erinnern” aus, wie Erinnerung Identität stiftet. Das gilt für jede Gemeinschaft – die Auseinandersetzung mit dem Genozid bietet darüber hinaus für die nicht-jesidische Gesellschaft eine Möglichkeit, sich über das eigene Werteverständnis Klarheit zu verschaffen.

Vielen Dank an Max Lucks und der Bündnis 90/ Die Grünen Bundestagsfraktion für die gemeinsame Veranstaltung! Wir bedanken uns bei allen, die den Abend zum Gedenken an den Genozid so lehrreich, informativ und vor allem hoffnungsvoll gemacht haben!