27. August 2020 – ADVOCACY
Als Menschenrechtsorganisation, die aus der Asche eines Völkermords geboren wurde, kennen wir die Geschichten und die Leiden der Überlebenden. Aus diesem Wissen erwächst eine Verantwortung, die Nöte der vom IS-Genozid betroffenen Menschen ernst zu nehmen, sie in Form konkreter Forderungen in die Öffentlichkeit zu tragen und insbesondere die Bundespolitik sowie die internationale Staatengemeinschaft zum Handeln zu bewegen, um eine Besserung der Situation der Betroffenen herbei zu führen. Wir begrüßen den politischen Willen, diejenigen, die sich schwerster Verbrechen gegen die Menschheit schuldig gemacht haben, ihrer gerechten Strafe zuzuführen. So widerfährt den IS-Opfern Gerechtigkeit und ermöglicht ihnen das Weiterleben in Würde und Freiheit.
Seit wir im Vorjahr erstmals unseren Forderungskatalog zum Umgang mit IS-Straftätern veröffentlichten, wurden bereits zwei unserer Forderungen politisch umgesetzt:
Damit Beweismaterial gegen deutsche IS-AnhängerInnen schnellstens gesammelt werden kann, muss Deutschland mit den kurdischen Regionalbehörden in Nordsyrien kooperieren. Das erste Gerichtsurteil zur Rückholpflicht einer IS-Anhängerin und ihrer Kinder wurde im November 2019 durch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ausgesprochen. Es ist folglich absehbar, dass weitere Angehörige von IS-AnhängerInnen erfolgreich auf Rückholung klagen und in der Folge nach Deutschland zurückkehren. Um die Opfer zu schützen und um zu verhindern, dass IS-VerbrecherInnen auf freien Fuß kommen, ist eine enge Kooperation zwischen Deutschland und den kurdischen Behörden unabdingbar. Nur so kann verhindert werden, dass straffällig gewordene IS-KämpferInnen nach Deutschland zurückkehren, ohne dass gegen sie ein Haftbefehl vorliegt. Über eine Kooperation mit der nordsyrischen Regionalregierung könnten bereits im Vorfeld der Rückkehr Beweise gesammelt werden, sodass die Beschuldigten im Falle einer Rückkehr schnell vor Gericht gebracht werden können. Liegen genügend Hinweise für eine Anklage und eine Verhaftung vor, muss Deutschland seine StaatsbürgerInnen zurückholen und ein Strafverfahren gegen sie auf völkerstrafrechtlicher Basis der Prozess gemacht werden – wie im Fall des Irakers Taha A.-J., der im Oktober 2019 an Deutschland ausgeliefert wurde. Dieser muss sich nun vor dem Oberlandesgericht wegen des Verdachts auf Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit infolge von massivsten Straftaten an einer Jesidin und ihrer fünfjährigen Tochter verantworten. Hierbei handelt es sich um das europaweit erste Strafverfahren wegen des Genozids an den JesidInnen. Aufgrund der Zusammenarbeit des Generalbundesanwalts mit der jesidischen NGO »Yazda« konnte die Mutter des toten Kindes gefunden werden. Sie wird nun an der Hauptverhandlung als Nebenklägerin und Zeugin teilnehmen. HÁWAR.help begrüßt diese beispielhafte Zusammenarbeit der Behörden und erwartet, dass weiterhin konsequent in dieser Weise gegen IS-AnhängerInnen ermittelt wird!
Die Völkerrechtsverbrechen an den Jesiden werden derzeit durch Ermittlungen der sogenannten „Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch“ (ZBKV) beweisfest für zukünftige Strafverfahren aufgearbeitet. Jesidische Opfer werden hierfür von speziell zusammengestellten und entsprechend geschulten „Frauen-Teams“ des BKA vernommen. Bisher sind schon mehr als 4.500 Hinweise bei der ZBKV eingegangen, was angesichts der Schwierigkeit der Materie auf eine Mammutaufgabe hinausläuft. Um diese zu bewältigen, wurden in den letzten Monaten die personellen und finanziellen Ressourcen der für die Ermittlungen zuständigen Behörden aufgestockt. So wurde die ZBKV um 20 ermittelnde Personen verstärkt, und die Bundesanwaltschaft um zwölf weitere StaatsanwältInnen verstärkt – zuvor waren es nur sieben. Das begrüßen wir sehr!
Das zusätzliche Personal wird erheblich dazu beitragen, eine effektivere Strafverfolgung zu ermöglichen, um eine umfassende Beweissicherung zu gewährleisten. Die Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverbrechen in Deutschland auf Grundlage des Weltrechtsprinzips ist nach unserer Auffassung ein entscheidender Schritt im Kampf gegen die Straflosigkeit und ein ernst zu nehmendes Warnsignal für Täterinnen und Täter. Schwerste Verbrechen berühren die internationale Gemeinschaft als Ganzes und dürfen nicht unbestraft bleiben. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Täter aus Deutschland kommen. Hunderte Deutsche mordeten in den letzten Jahren im Namen des IS im Irak und in Syrien, vergewaltigten Frauen und Kinder und begingen systematisch Menschenrechtsverbrechen an Jesiden. Wir stehen deshalb im Austausch mit internationalen Organisationen und Sicherheitsbehörden, in Deutschland mit Vertretern der Politik und den inländischen Sicherheitsbehörden, dort insbesondere mit dem Bundeskriminalamt und dem ZBKV.
Schließlich ist Deutschland mit der Errichtung des Völkerstrafgesetzbuches im Jahre 2002 das Versprechen eingegangen, einen aktiven Beitrag zur internationalen Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen zu leisten – und ist dabei auch nicht untätig geblieben. Dass die Bundesanwaltschaft im Rahmen eines Strukturermittlungsverfahrens gegen den IS ermittelt und bereits mehrere Verdächtige inhaftiert wurden, ist unbedingt zu begrüßen. Positiv ist ebenfalls, dass das Referat Völkerstrafrecht des Generalbundesanwalts seinen Fokus in den letzten Jahren deutlich in Richtung Syrien und Irak verlagert hat. Die steigenden Zahlen der von der Bundesanwaltschaft geführten Ermittlungsverfahren sprechen eine eindeutige Sprache.
Trotz dieser Leistungen steht die bisherige Verfolgungstätigkeit jedoch noch immer in Kontrast zu den massenhaft begangenen Sexualverbrechen an jesidischen Frauen und Mädchen. Denn bislang gibt es in den Verfolgungsbemühungen Deutschlands keinen Fokus auf die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Bis heute – fast sechs Jahre nach dem Völkermord an den Jesiden – gibt es immer noch keine Anklage wegen Genozid.
Und das, obwohl sich tausende europäische Staatsbürger in den Reihen des IS an den Menschheitsverbrechen beteiligt haben – Europa kann und darf
sich nicht der Aufarbeitung und Ahndung der Verbrechen verweigern. Mit Blick auf die eigene Geschichte und die Nürnberger Prozesse sehen wir die Bundesrepublik zudem in der Pflicht. Wir sind davon überzeugt, dass die juristische Aufarbeitung dieser Verbrechen nicht nur Gerechtigkeit im Einzelfall ermöglicht, sondern ein ganz bestimmtes Konzept historischer Gerechtigkeit darstellt: Es steht in unserer historischen Verantwortung, den Bruch zwischen gewaltvoller Vergangenheit und rechtsstaatlicher, friedlicher Zukunft zu vollziehen. Historische Gerechtigkeit ist die notwendige Bedingung für langfristigen Frieden. Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen das Weltrechtsprinzip gilt. Gerade deshalb spielt die Bundesrepublik im Kampf gegen die Straflosigkeit in Syrien und Irak eine Schlüsselrolle. Trotz des unzweifelhaft vorhandenen Bemühens der Strafverfolgungsbehörden, die furchtbaren Verbrechen des Islamischen Staates zu ahnden, werden jedoch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.
Düzen Tekkal, Politiologin, Dokumentarfilmerin und Gründerin der Menschenrechtsorganisation HAWAR.help und Dr. Alexander Schwarz, Völkerrechtler an der Universität Leipzig, Experte für geschlechtsbezogene Verfolgung an Jesidinnen durch Mitglieder des IS und HAWAR.help-Völkerrechtsexperte, fordern weiterhin:
Neben der personellen Ausstattung besteht bei der finanziellen Ausstattung der ZBKV ebenfalls Handlungsbedarf. Im Wettlauf gegen die Zeit muss den zahlreichen Hinweisen auf Völkerrechtsverbrechen möglichst zeitnah nachgegangen werden, nicht nach Kassenlage.
Wir fordern die Bundesanwaltschaft auf, Ermittlungen zu sexualisierter Gewalt an jesidischen Frauen und Mädchen fokussiert voranzutreiben.
Zeuginnen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind, müssen davor geschützt werden, dass sie bei der Vernehmung weitere seelische Schmerzen erleiden. Dafür ist es notwendig, dass Therapie, Beratung und Strafverfolgung eng zusammenarbeiten und eine psychosoziale Betreuung jederzeit sichergestellt ist.
Staatsanwaltschaft, Polizei und Übersetzer müssen mit den kulturellen Hintergründen der Zeuginnen vertraut gemacht werden.
Durch die Fluchtbewegungen der letzten Jahre befindet sich eine große Anzahl an potenziellen Zeugen für Völkerstraftaten im Zugriffsbereich deutscher Behörden. Durch eine systematische Identifizierung der Zeugen, einer systematischen Aufnahme der Aussagen und einer systematischen Sicherung der mitgeführten Beweismittel (etwa: Videos auf Smartphones) muss eine rechtzeitige, kontinuierliche und umfassende Beweissicherung erfolgen.
Für Rückkehrer, die kein strafrechtlich relevantes Verhalten begangen haben, bzw. denen ein solches Verhalten nicht nachweisbar ist, um eine Freiheitsentziehung zu rechtfertigen, müssen langfristige Programme zur Deradikalisierung und psychologischen Betreuung bereitgestellt werden.
Das Zusammentragen der Beweise erfordert eine intensive internationale Kooperation, bei der es derzeit aber massiv hapert. So hat das BKA bislang nur einen Verbindungsmann im Libanon, der eine Nebenzuständigkeit für Syrien besitzt. Für den Irak besteht sogar überhaupt kein Verbindungswesen. Um einer effektiven Strafverfolgung den Weg zu bereiten, müssen wesentlich mehr Verbindungsbeamte eingesetzt werden.
Täter und Opfer der Völkerrechtsverbrechen des IS sind mittlerweile auf der halben Welt verstreut, unzählige nationale und internationale Organisationen sind mit der Beweisaufnahme beschäftigt. Eine Verbesserung des Austausches zwischen nationalen und internationalen (Strafverfolgungs-)Behörden dürfte nicht nur erhebliche Zeit- und Effizienzgewinne nach sich ziehen, sondern in vielen Fällen überhaupt erst eine sinnvolle Strafverfolgung ermöglichen.
Die Autonome Administration Nord- und Ostsyrien (Rojava) gab kürzlich bekannt, dass es ein eigenes Tribunal ins Leben rufen wird, um IS-Straftäter vor Gericht zu bringen. Dafür benötigt sie rechtliche und finanzielle Unterstützung von der Staatengemeinschaft. Den Vorstoß der Administration der kurdischen Autonomiegebiete befürworten wir und fordern die Bundesregierung dazu auf, die Initiative aus Rojava nach Kräften zu unterstützen. Nach Angaben der kurdischen Administration befinden sich derzeit 1000 IS-Kämpfer, 8.000 Kinder und 4.000 Frauen aus 53 Staaten in ihrer Obhut. Es bietet sich also die Gelegenheit, die Gerichtsbarkeit vor Ort mit Legitimität auszustatten, um sie bei der Aufarbeitung der IS-Straftaten zu unterstützen – gerade weil sich ehemalige IS-Kämpfer und ihre Sympathisanten (noch) vor Ort in Gewahrsam befinden.
Deutschland ist noch bis Ende 2020 nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Damit übernimmt die Bundes- republik in dieser Rolle besondere Verantwortung für Frieden und Sicherheit in der Welt. Wir fordern den UN-Sicherheitsratauf, den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) durch eine Resolution zu ermächtigen, Ermittlungen zum Völkermord in Irak und Syrien aufzunehmen oder ein Sondertribunal einzurichten.
Das Ziel aller Einzelmaßnahmen muss sein, dass Deutschland in die Lage versetzt wird, Völkerrechtsverbrechen durch die nationale Justiz effektiv und zeitnah zu verfolgen. Der IS hat massive Völkerrechtsverbrechen begangen und die Verantwortlichen dürfen nicht damit rechnen, dass ihre Verbrechen ungestraft bleiben. Den Überlebenden sind wir es schuldig, dass die Täter für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Und zwar nicht erst
in zwanzig oder dreißig Jahren, sondern so schnell wie möglich. Dabei geht es nicht nur um individuelle Gerechtigkeit, sondern auch um historische. Schließlich enden die Verfahren nicht nur mit einem Urteilsspruch, sondern dokumentieren gleichzeitig auch die einzelnen Verbrechen für die Nachwelt.
Eine konsequente Strafverfolgung internationaler Verbrechen durch deutsche Behörden wäre ein wichtiges Zeichen für die Opfer der Verbrechen – und eine Warnung an alle künftigen Völkerrechtsbrecher. Für die Täter von Kriegsverbrechen darf es keinen sicheren Hafen geben. Nicht in Deutschland, aber auch nicht in einem anderen Land dieser Welt. Es ist an der Zeit, die unzulängliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen an den Jesiden zu beenden.